Everything But the Girl
Fuse
Album · Pop · 2023
„Fuse“ lediglich als das erste Album von Everything But the Girl seit 24 Jahren zu bezeichnen, würde all das schmälern, womit das Ehepaar Ben Watt und Tracey Thorn seitdem beschäftigt war – darunter sieben Soloalben, drei Kinder, fünf Memoiren und drei Plattenfirmen. „Bis zur Pandemie gingen wir ziemlich getrennte Wege“, sagt Watt gegenüber Apple Music. „Als sich die Dinge wieder normalisierten, merkten wir beide, dass uns die ganze Erfahrung sehr verändert hatte, und wir fragten uns, ob eine Veränderung und eine neue Richtung eine gute Idee sein könnten.“
Doch so sehr das Projekt für Watt und Thorn auch eine persönliche Veränderung darstellte, ihre Musik war schon immer einerseits zeitgemäß, andererseits auch etwas außerhalb ihrer Zeit. Und genau darum fühlt sich „Fuse“ so einzigartig an – wie alles andere, das sie bisher gemacht haben. Manche Tracks tragen deutliche Spuren der 2020er-Jahre, sei es der 2-Step-Beat von „Nothing Left To Lose“ oder Thorns Duett mit ihrem unheimlichen Auto-Tune-Ich auf „When You Mess Up“. Andere wiederum – etwa die stille Verzweiflung in „Run A Red Light“ oder das ausgelassene „No One Knows We’re Dancing“ – greifen auf die gleichen schrägen Raffinessen zurück, die ihre Musik schon vor der Entdeckung der Drumcomputer prägten. „Wir hatten mehr Zeit für uns und mehr Zeit füreinander“, sagt Watt über ihr erstes gemeinsames Album seit dem 1999 erschienenen Album „Temperamental“. „Tracey sagte einfach: ‚Vielleicht ist jetzt die Zeit dafür – wenn nicht jetzt, wann dann?‘ Als wir anfingen – nach den ersten zaghaften Schritten –, merkten wir, dass wir noch so viel gemeinsam hatten. Eine gemeinsame Sprache. Die Liebe zur Reduziertheit, zu direkten Emotionen und zum Raum.“ Hier sprechen Watt und Thorn über das Album, Track für Track.
„Nothing Left To Lose“
Tracey Thorn (TT): Das war der letzte Song, den wir geschrieben und aufgenommen haben. Ich glaube, wir konnten ihn erst machen, als wir unser Selbstvertrauen wiedergefunden hatten. Wir waren begeistert von den Tracks, die wir schon fertig hatten, und dachten, wir bräuchten nur noch einen, um das Ganze abzurunden. Als Ben den Backing-Track zusammenstellte, mit diesem Beat und dem schweren Tremolo-Bass und viel Platz für meine Stimme, fühlte es sich wie eine Anspielung auf unsere Vergangenheit an, nur frischer. Es war so atmosphärisch und inspirierte mich zu diesem echt rohen, von Herzen kommenden Text.
„Run A Red Light“
Ben Watt (BW): Wir waren gerade dabei, ein paar Songs aufzunehmen, als ich Tracey eines Abends einige Songs vorspielte, die ich vor ein paar Jahren als Demo aufgenommen hatte. Dieser war einer davon, und Tracey hat ihn sofort ausgewählt und gesagt: „Das ist ein toller Song, den muss ich singen dürfen.“ Die Zeile mit „run a red light“ („bei Rot fahren“) kam nur einmal vor, als Coda am Ende. Stattdessen haben wir ihn in den Refrain verwandelt und die Zeilen gemeinsam gesungen, wobei meine Stimme stark mit Auto-Tune abgemischt wurde, was Mark Ronson als „sad robot“ („traurigen Roboter“) bezeichnet. Der Text ist ein Porträt des Typs, den ich während meiner Zeit als DJ oft am Ende der Nacht getroffen habe, der denkt, dass er nur eine Pause braucht und alles verändern kann.
„Caution To The Wind“
TT: Es ist ein ziemlich ungewöhnlicher Track für uns, weil er im House-Tempo und dennoch fast euphorisch ist. Normalerweise bringen wir Traurigkeit in diese musikalische Stimmung ein, aber dieses Stück hat einen richtig fröhlichen Text: die Sterne, der Himmel wie eine Kathedrale, die Idee, dass jemand nach Hause kommt und alle Bedenken in den Wind schlägt („Caution To The Wind“), um jemandem nahezukommen. Bei der „Caution To The Wind“-Zeile musste ich an Stevie Nicks denken. Der Song hat auch etwas von Fleetwood Mac.
„When You Mess Up“
BW: Das war der erste Song, den wir seit 1999 zusammen geschrieben haben. Ich hatte eine Reihe von Klavierimprovisationen auf meinem iPhone aufgenommen und spielte einfach drauf los, ohne den Gedanken, dass ich einen Song schreiben würde. Dabei versuchte ich, mich von jeglichem Druck und von den Erwartungen zu befreien. Außerdem benutzte ich eher ungewöhnliche Akkordfolgen, 4er und 6er usw. Tracey schrieb diesen Text darüber, sodass die Übergangsphase zwischen dem mittleren Alter und der Zukunft dich an all die Spannungen und die Ungewissheit des Jungseins erinnert. Aber sie versucht auch, sich selbst zu verzeihen, indem sie sagt: „Sei nicht so hart zu dir selbst, wir machen alle Fehler, das Leben ist schwierig.“ Wir haben ein wenig an Traceys Stimme herumgespielt, sie höher gestimmt und ihren Tonfall verändert, sodass es sich anhört, als ob ein kleiner Teufel auf ihrer Schulter sitzt oder eine innere Stimme sie bedrängt.
„Time And Time Again“
TT: Das ist so ein Song, bei dem man nicht genau sagen kann, was die Strophe und was der Refrain ist. Er ist eher kreisförmig als geradlinig. Im Text geht es darum, dass jemand einer Person ansieht, die nicht von einer Beziehung loskommt, und sich vorstellt, dass man ihn irgendwann retten muss. Ben und ich singen in den Strophen zusammen, ein wirklich schöner Downbeat-Gesang. Und dann wird meine Stimme im Mittelteil wieder beschleunigt und als eine Art Effekt eingesetzt. Das erinnert uns ein bisschen an unsere ersten Ausflüge in die elektronische Musik in den 80er-Jahren, wo einige Tracks auf „Idlewild“ von Jam & Lewis-Produktionen inspiriert waren, dem Pop- und R&B-Vibe dieser Zeit.
„No One Knows We’re Dancing“
BW: Der Text ist eine Art Hommage an „Lazy Dog“, die Clubnacht, die ich zusammen mit Jay Hannan Ende der 90er-Jahre mehrere Jahre lang in Notting Hill veranstaltet habe. Sie fand sonntags statt, begann am Nachmittag und endete um Mitternacht, und der Song fängt etwas das Kolorit ein – einige der Stammgäste, die dort auftauchten, oder Leute, die dort arbeiteten. Es geht um die geheime, in sich geschlossene Club-Welt, die durch das Gefühl verstärkt wird, dass du um 17 Uhr im dunklen Keller tanzt, während draußen auf der Straße das normale Leben weitergeht und die Sonne brennt. Ewan Pearson fügte ein paar zusätzliche Synthesizer und Drums hinzu und so entstand ein echter dubbiger Italo-Disco-Vibe.
„Lost“
TT: Das war ein frühes Musikstück, das Ben zu Hause während des Lockdowns aufgenommen hatte. Ein hypnotischer, sich wiederholender Zyklus eines Liedes. Er hatte die Worte „I lost ...“ („Ich habe verloren …“) in Google eingegeben und alle Vorschläge befolgt, die auftauchten, um den Text zu schreiben: Ich habe meinen Verstand verloren, ich habe meine Taschen verloren, ich habe meinen perfekten Job verloren. Es wirkt anfangs vielleicht willkürlich und abgehoben, aber dann trifft dich die Zeile „I lost my mother“ („ich habe meine Mutter verloren“) und du erkennst, dass es um Verluste aller Art geht und wie sie dich treffen. Ich habe dann improvisiert und einen anderen Text als eine Art Kontrapunkt im Hintergrund gesungen. Es sind Ermahnungen, im Angesicht von Verlust nicht aufzugeben, weiterzumachen und sich nicht als Verlierer zu betrachten.
„Forever“
BW: Das war der erste Track auf diesem Projekt, bei dem ich einen 4-to-the-Floor-Beat hinzugefügt habe, und ich weiß noch, wie Tracey in den Raum gerannt kam und sagte: „Das gefällt mir!“ Aber es ist nicht wirklich ein Dance-Track, und das mögen wir sehr. Er hat einen ziemlich dunklen, pulsierenden Rhythmus und eine sehr intensive Stimmung. Im Text geht es um das, was wichtig ist – keinen Raum für Spielchen und Zeitverschwendung zu lassen, sondern herauszufinden, wer in einer Krise für dich da ist ... oder wie es in dem Text heißt: „When everything burns down“ („Wenn alles niederbrennt“).
„Interior Space“
TT: Das Stück begann als eine weitere Klavierimprovisation von Ben und ist überlagert von einer Klanglandschaft aus Drones und Swooshes und einer Außenaufnahme, die unser Tontechniker Bruno während eines Urlaubs mit seiner Familie an einem Strand in Wales gemacht hatte. Außerdem ist von Ben die einzige Gitarre auf dem Album zu hören. Meine Stimme wurde stark bearbeitet, sodass sie sich wie das Innere meines Kopfes anhört, vernebelt und psychedelisch, ein bisschen überdreht. In dem Text geht es darum, dass man sich selbst nicht versteht, dass man sich unwissend fühlt. Und das Arrangement versucht, dieses Gefühl zu dramatisieren, es lebendig und real zu machen.
„Karaoke“
BW: Ein langsamer, einsamer Groove zum Abschluss des Albums – verzerrte Orgel, CS-80, West Coast Moog. Der Text der Strophe handelt von einem Besuch in einer Karaoke-Bar in San Francisco, wo ich vor einigen Jahren war. Zu Beginn des Abends war es ziemlich öde, dann kamen die Stammgäste und eine Frau sang Jennifer Hudsons „Spotlight“ und brachte den Laden schließlich zum Beben. Das inspirierte Tracey dazu, den Text des Refrains hinzuzufügen, der eine weitere Idee in das Lied einbringt: „Wofür singt man? Singst du, um die gebrochenen Herzen zu heilen, oder für die Partystimmung?“ Beides, ist die offensichtliche Antwort.