Willie Nelson
Last Leaf On The Tree
Album · Country · 2024
Es gibt nicht wirklich viele Künstler:innen, die vor der Frage stehen, wie sie ihr 153. Album zu etwas Besonderem machen können. Aber es heißen auch wenige Künstler:innen Willie Nelson. Selbst in seinen Neunzigern legt die beliebte Country-Ikone noch ein Arbeitspensum von etwa zwei Studioalben pro Jahr vor, dank seiner Zusammenarbeit mit Producer Buddy Cannon. Dieser entwickelte ein effizientes System, mit dem Nelson und seine vertraute Nylonsaiten-Gitarre – eine Martin von 1969 namens „Trigger“ – Aufnahmen von Covern und gelegentlich auch Originalen mit einem Tempo von bis zu 14 Songs an einem Tag schafften. Das war zwar effizient, ließ aber nicht unbedingt viel Spontaneität und Abwechslung zu. Als Nelsons Manager also etwas Neues ausprobieren wollte, musste er nicht lange nach einem neuen Mitstreiter suchen: Nelsons Sohn Micah, der unter dem Namen Particle Kid aufnimmt. „Ich war auf einmal von einer Million verschiedener Emotionen überwältigt, und in meiner Fantasie spielte ich mit all den Möglichkeiten und Richtungen, in die es gehen könnte“, erzählt Micah Nelson Apple Music. „Wie kann ich meinen eher impressionistischen DIY-Ansatz in der Musik mit seinem Ethos, seinem Stil, seiner Ästhetik und seiner Geschichte verbinden? Wie können wir all diese Elemente so zusammenführen, dass es sich natürlich und authentisch anfühlt?“ Ursprünglich sollte es ein Album mit Tom Waits-Covern werden, aber als Micah die Alben „Spirit“ (1996) und „Teatro“ (1998) seines Vaters noch einmal durchging, entwickelte sich daraus der Ansatz für „Last Leaf On The Tree“. „Eine Sache, die meiner Meinung nach auf vielen Platten meines Vaters nicht genug zur Geltung kam, war die Stille – der Raum und der Platz für ‚Trigger‘ und ihn selbst“, sagt Micah Nelson. „Deshalb kam mir ‚Spirit‘ in den Sinn, ein Album, das ich schon als Kind geliebt habe. Das ganze Album besteht aus vier Elementen – kein Bass und kein Schlagzeug. Nur mein Vater, Tante Bobbie am Klavier, Johnny Gimble an der Geige und Waylon Payne an der Gitarre. Und es fehlt nichts. Die Einspielung ist so gefühlvoll, und man hört alles – es ist, als ob man die Seele der Menschen vernimmt, die spielen. Das ist ein sehr schmaler Grat bei der Musik – da kann so viel Sound sein, dass du gar nichts mehr hörst.“ Mit diesem Gedanken im Hinterkopf spannte er ein breiteres Netz und präsentierte seinem Vater eine vielseitigere Auswahl an Songs, mit denen er arbeiten konnte. Einige, wie Waits’ „Last Leaf“ und „House Where Nobody Lives“ und vor allem Warren Zevons letzte Botschaft in „Keep Me in Your Heart“, stammen von Zeitgenoss:innen Willie Nelsons, die sich mit dem Thema der Vergänglichkeit auseinandersetzen. Aber Micah Nelson nahm auch neuere Künstler:innen wie The Flaming Lips auf, deren elegisches „Do You Realize??“ in diesem Kontext eine ganz besondere Eindringlichkeit erhält. „Ich habe mich nicht hingesetzt und gedacht: ‚Ich möchte, dass dieses Album von Tod und Liebe handelt‘“, sagt Micah Nelson. „Die Musik der Flaming Lips hat mich von klein auf zutiefst geprägt. Dieser Song kam mir in den Sinn, und als ich mir vorstellte, wie mein Vater es singt, bekam es ein ganz neues Gewicht, wenn man seine Lebensgeschichte und die vielen Freund:innen bedenkt, die er verloren hat.“ Willies Interpretationen von Balladen über verlorene Liebe, wie Becks „Lost Cause“ oder Keith Richards’ „Robbed Blind“, wirken nicht so, als handele es sich nur um eine einzelne Beziehung – sie sprechen von Beziehungen im Allgemeinen. „Ich betrachte solche Songs und denke: ‚Das sind Country-Songs, und das ist etwas, das mein Vater mehr als einmal erlebt hat. Er kann sich damit identifizieren und sie ehrlich singen.‘ Wenn ein:e 20-Jährige:r ein Lied wie ‚Lost Cause‘ singt, ist das eine Sache; aber wenn er als 92-Jähriger es singt, bekommt es plötzlich eine viel existenziellere Bedeutung.“ Für Micah Nelson ist jedoch der Höhepunkt des Albums kein Cover, sondern ein Stück, das er und sein Vater gemeinsam schrieben: „Color Of Sound“. „All diese Neuinterpretationen waren wirklich großartig, aber ich wollte wenigstens einen Song auf dem Album haben, den er selbst geschrieben hat und der aktuell ist. Wir saßen im Bus und ich fragte ihn, ob er etwas Neues geschrieben, ob er neue Lieder habe, und er sagte: ‚Nein, ich habe alle geschrieben.‘ Dann sagte er: ‚Na ja, ich habe noch das eine: Wenn Stille golden ist, welche Farbe hat dann der Klang?‘ Da wusste ich: ‚Okay, jetzt ist es unser Album. Wir haben diesen Song, den wir zusammen geschrieben haben.‘“ Wäre „Last Leaf On The Tree“ das letzte Album von Willie Nelson – und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es das sein wird –, wäre es ein würdiger Abschluss für ein einzigartiges amerikanisches Leben und eine einzigartige Karriere. Doch für Micah Nelson ist es noch viel mehr als das. „Ehrlich gesagt bin ich einfach nur dankbar, dass er lange genug gelebt hat, um dieses Album mit mir machen zu können, dass er in diesem Alter noch so gesund ist und noch so viel Elan hat“, sagt er. „Das bedeutet mir sehr viel. Außerdem ist mir klar, dass ich vielleicht nie wieder die Chance bekomme, ein Album mit ihm zu machen, also heißt das schon etwas.“

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