Dalia Stasevska & BBC Symphony Orchestra
Dalia's Mixtape
Album · Klassik · 2024
„Das Orchester gehört zu den großartigsten Instrumenten, die je geschaffen wurden“, sagt Dalia Stasevska im Gespräch mit Apple Music Classical, „aber wie klingt seine Zukunft? Und wie wird es sich weiterentwickeln?“ Die finnische Dirigentin versucht, derlei Fragen auf diesem fesselnden und vielseitigen Album zu beantworten. Zu hören sind zeitgenössische Werke sowie solche aus dem 20. Jahrhundert. Alle sind sie sowohl in der Konzeption als auch in der Umsetzung äußerst originell.
„Mit ‚Dalia’s Mixtape‘ wollte ich erreichen, dass wir nicht über Genres reden müssen“, fügt Stasevska hinzu. „Hier geht es nur um großartige Musik. Um hervorragende Komponist:innen, die etwas Interessantes mitzuteilen haben und die dem Sinfonieorchester als Instrument neue Richtungen weisen. Die Geschichte der klassischen Musik ist unglaublich, aber es ist auch sehr wichtig, Neues zu entdecken. Man muss seiner Umgebung zuhören und Antworten auf sie finden.“
Stasevska ist nicht nur neugierig darauf, was wir hören. Sie interessiert auch, wie wir es hören. Hören wir uns beispielsweise im Streamingzeitalter überhaupt noch Alben an? „Ich wurde von einer Diskussion inspiriert. Da behauptete jemand, er höre keine klassische Musik, aber in Wirklichkeit hörte er sie, ohne es zu wissen – auf Playlists.“
Alle zehn Tracks von „Dalia’s Mixtape“ wurden vom BBC Symphony Orchestra aufgenommen. Jeder einzelne wurde in den Monaten vor der Veröffentlichung des Albums als EP veröffentlicht. Anlässlich der Veröffentlichung von „Dalia’s Mixtape“ nimmt uns Stasevska mit auf eine persönliche und aufschlussreiche Reise durch die einzelnen Stücke.
Anna Meredith: „Nautilus“
Anna Merediths „Nautilus“ ist sehr, sehr energiegeladen. Es hat etwas von Trance und hypnotisiert dich völlig. Ich hörte das Stück, als Anna vor etwa vier Jahren mit ihrer Band in Helsinki auftrat. Da dachte ich sofort, dass es fantastisch für ein Sinfonieorchester geeignet wäre.
Man braucht dafür eine ganz besondere Einstellung. Man kann nicht nur die Noten spielen, man muss sich wie ein:e Rockmusiker:in fühlen. Es klingt sehr nach Industrial und es ist kraftvoll.
Andrea Tarrodi: „Wildwood“
„Wildwood“ wurde von den Bäumen inspiriert – ihre Wurzeln wachsen tief in den Boden und ihre Äste ragen in den Himmel. Aber auch der innere Wald ist ein Thema. Andrea Tarrodi schrieb dieses Stück nach der Geburt ihrer Tochter und sagt, sie habe sich entsprechend gefühlt. Ich kann das gut nachvollziehen. Meine eigene Tochter ist fünf Monate alt, und so etwas spürt man zum ersten Mal: wirklich mit der Erde verwurzelt zu sein.
„Wildwood“ ist eines von Tarrodis stärksten Stücken. Es besitzt einen sehr umfangreichen und prächtigen Spannungsbogen.
Judith Weir: „Still, Glowing“
Das ist das einzige Stück, in dem sich Judith Weir mit Ambient-Musik beschäftigt, was ich wirklich spannend finde. Im Mittelpunkt steht eine strahlende und klare Streichertextur, die dir das Gefühl vermittelt, dass die Zeit eingefroren ist.
Bisweilen erscheinen Xylofon und Holzbläser wie flüchtige Gedanken oder vorbeiziehende Wolken. Es ist ein sehr langsamer, schöner Miniatursatz.
Caroline Shaw: „The Observatory“
Caroline Shaw ist eine der wichtigsten kontemporären Stimmen unserer Zeit. Dieses Stück ist ein filmisches Werk, ein erzählerisches Abenteuer. Es ist eine kaleidoskopische Reise aus dem Griffith Park Observatory in Hollywood.
In dem Werk finden sich einige bekannte musikalische Bezüge, etwa zu Richard Strauss’ „Don Juan“, Johann Sebastian Bachs „Brandenburgischem Konzert Nr. 3“, Jean Sibelius’ „Sinfonie Nr. 2“ und der „Sinfonie Nr. 1“ von Johannes Brahms. Es ist ein ganz schöner Ritt. Mir gefällt der starke Puls, der sich durch das gesamte Stück zieht. Das erinnert an den Herzschlag einer Stadt.
Lauri Porra: „Utu“
„Utu“ ist Teil der Suite „Cabins & Hideouts“ von Lauri Porra – ein persönliches musikalisches Tagebuch, mit dem er die Tage in der finnischen Sommerhütte seiner Familie nachzeichnete. „Utu“ ist Finnisch für „Nebel“ und spielt bei Sonnenuntergang, wenn die Luft in der Abenddämmerung kälter wird. Auf der Oberfläche des Sees erscheint diese dünne Schicht aus langsam fließendem weißem Nebel. Es ist ein ganz spezieller Moment im Sommer.
Hier ist die Instrumentierung das Besondere. Sie kombiniert Streicherharmonische, tiefe, stützende Instrumente und eine Bassklarinette. Ich kenne keine andere Komposition, in der Obertöne so eingesetzt werden, dass sie nicht nur als Effekt dienen. Das hat etwas sehr Meditatives und versetzt dich direkt in die Stille der finnischen Sommernächte.
Jóhann Jóhannsson: „They Being Dead Yet Speaketh“
Ursprünglich wurde „They Being Dead Yet Speaketh“ für den Film „The Miners’ Hymns“ geschrieben, eine Dokumentation aus dem Jahr 2010 über eine Bergbaugemeinde im Nordosten Englands. Jóhannssons Musik vereint düstere Orchesterakkorde, Ambient-Effekte und gespenstische Bläsersätze zu einer Anspielung auf die berühmten Blaskapellen der Zechen. Diese waren ein wichtiger Teil der Bergbaukultur.
Jóhannssons Musik ist sehr bewegend, sie scheint immer ein ganz persönliches Element zu enthalten. Hat das vielleicht auch teilweise mit der isländischen Landschaft zu tun, mit der Abgeschiedenheit und der Rauheit? Auf jeden Fall findet sich etwas davon in diesem Soundtrack.
Julius Eastman: „Symphony No. II ‚The Faithful Friend: The Lover Friend’s Love for the Beloved‘“
„Symphony No. II“ wurde erst vor einigen Jahren entdeckt und musste komplett rekonstruiert werden. Wenn ich die Geschichte dieses Stücks richtig verstehe, ist es ein Liebes- und ein Trennungsbrief. Julius Eastman ging es nicht besonders gut, als er es schrieb. Er war obdachlos und hatte am Ende seines Lebens eine Menge Probleme, sodass er dieses Stück wahrscheinlich verfasste, während er irgendwo auf der Couch von einer Person mit einem Klavier übernachtete.
Ich denke, die ungewöhnliche Instrumentierung ist darauf ausgelegt, über das gesamte Werk hinweg tiefe und resonante Drone-Klänge zu erzeugen. Es besitzt eine ganz besondere Klangfarbe – es ist sehr, sehr düster und wirklich schön.
SØS Gunver Ryberg: „COEXISTENCE“
Ryberg ist eine faszinierende Komponistin. Sie ist eine Bildhauerin der Töne. Sie modelliert den Klang eines Orchesters wie einen Synthesizer und konzentriert sich mehr auf Effekte als auf Harmonien oder Melodien. Das Interessante und Einzigartige daran ist die Explosion von organischen und elektronischen Klängen, wenn sie alles zusammenfügt.
Noriko Koide: „Swaddling Silk and Gossamer Rain“
Der Titel ist wirklich poetisch. An diesem Stück faszinierte mich die Fantasie, die ihm innewohnt. Einige der verwendeten Techniken habe ich noch nie zuvor gesehen oder gehört – sie sind echt beeindruckend. Die Spieler:innen ahmen nicht nur das Geräusch von tropfendem Wasser nach, sondern verwenden auch einen Bleistift zwischen den Violinsaiten für eine Art Klopfgeräusch.
Julia Wolfe: „Pretty“
Wolfe auf diesem Album zu haben, war für mich von besonderer Bedeutung. In gewisser Weise ist sie der Prototyp für viele der heutigen Komponist:innen. In ihrer Musik kommen oft elektrische Instrumente wie die E-Gitarre zum Einsatz. Aber bei diesem schwungvollen und festlichen Stück wollte sie sich selbst herausfordern und ihre Klänge nur mit akustischen Orchesterinstrumenten erzeugen.
Sie greift auf eine Vielzahl von Instrumentaltechniken zurück, darunter schnelle Tremolos und ein Gleiten auf dem Griffbrett. So wird der Klang von E‑Gitarren imitiert. In der Probe sagte sie uns sogar, dass wir einige der Passagen spielen sollten, als wären wir Jimi Hendrix. Das inspirierte uns ungemein.