Alexandre Kantorow
Alexandre Kantorow plays Brahms and Schubert
Album · Klassik · 2024
Das Ausnahmetalent Alexandre Kantorow bietet hier fesselnde Aufführungen von zwei der größten und einflussreichsten Klavierwerke des 19. Jahrhunderts. Mit dabei ist Brahms’ „Klaviersonate Nr. 1“, ein Frühwerk, das, wie Kantorow Apple Music Classical erzählt, die „idealistische Vision des Komponisten von dem, was das Klavier kann“ musikalisch und technisch darstellt. Das Programm endet mit Schuberts aus dem Rahmen fallenden, tiefgreifenden „Wanderer-Fantasie in C‑Dur“ aus dem Jahr 1822 – ein kolossales Werk mit nur einem Satz, das mehr als 30 Jahre später Vorlage für Liszts große „Klaviersonate h‑Moll“ (die im selben Jahr wie Brahms’ erste Sonate fertiggestellt wurde) werden sollte. Beide Werke stellen Lieder in den Mittelpunkt ihrer langsamen Sätze, und so bietet eine Auswahl von Liszts Arrangements von Schubert-Liedern sowohl einen wunderschönen Kontrast zu diesen monumentalen Sonaten als auch eine Brücke zwischen ihnen.
„Die beiden Komponisten Brahms und Schubert zeigen sich hier mit ihrer anspruchsvollsten und anstrengendsten Musik, die vielleicht überschwänglicher war als nötig“, erzählt Kantorow Apple Music Classical. „Allerdings erzeugt dies viel Spannung und es entstehen riesige Berge, die es zu erklimmen gibt.“ Die „Sonate Nr. 1“, die während der Anfänge von Brahms’ Karriere komponiert wurde, war eine frühe Visitenkarte, die zeigt, wie er sich bereits auf ehrgeizige Strukturen einließ, die sich später in seinen Projekten mit großformatiger Orchestermusik voll entfalteten. „Die drei Klaviersonaten, die Brahms schrieb, waren im Grunde seine Sinfonien – die Musik imitiert jedes Instrument des Orchesters“, so Kantorow.
Vom Eröffnungstakt, bei dem Brahms Klangberge mit weiten Akkorden und unerbittlichen Sprüngen kreiert, bis hin zum schmerzend schönen „Andante“, dem rustikalen dritten Satz und der rhythmischen Kraft des Finales vereint Kantorow chirurgische Präzision und Artikulation mit einem natürlichen Gespür für das Auf und Ab der Musik. All dies wird durch flinke Klavierakzente, den subtilen Einsatz von Rubato und überlegte dynamische Abstufungen erreicht.
Kantorow verleiht diese Klarheit und breite Farbpalette fünf Liedern Schuberts, die jeweils von Liszt arrangiert wurden, einschließlich „Der Wanderer“, der Grundlage für Schuberts Klavierfantasie. „Schubert stellt die besten Herausforderungen für Liszt dar“, findet Kantorow. „Liszt war besessen von dem dreiminütigen Lied, mit der Fähigkeit des Klaviers, alles zu imitieren. Mit Schuberts Liedern bekommt man alles, was Liszt mag. Da ist das Fantastische, die Personifizierungen des Todes und der sprechende Bach. Gleichzeitig gibt es äußerst klare Emotionen. Kleine Formen haben ihm sehr geholfen.“ Liszt schafft in jedem Lied außergewöhnlich lebendige Klanglandschaften, wie beispielsweise das finstere, sinnierende „Am Meer“, bei dem Kantorow seine stürmische Virtuosität unter Beweis stellen kann.
Wie die Brahms-Sonate explodiert auch Schuberts „Wanderer-Fantasie“, ein weiterer großer Einfluss für Franz Liszt, aus ihrem Eröffnungstakt im fröhlichen C‑Dur. Aber im Gegensatz zu Brahms schafft Schubert nicht Struktur aus separaten Sätzen, sondern aus melodischen und rhythmischen Ideen. „Da ist diese organische Vereinigung zwischen den Sätzen, die musikalisch nicht voneinander getrennt sind“, erklärt Kantorow. „Sie sind alle durch die gleichen Rhythmen verbunden, welche die gesamte ‚Wanderer-Fantasie‘ antreiben“, die später von Liszt wegen der Verwendung des Themas „Der Wanderer“ im „Adagio“ so genannt wurde. Bei diesem Stück nimmt uns Schubert mit auf eine Reise von Tonarten, Variationen und Transformationen. Aber, betont Kantorow, „man hat stets das Gefühl, dass es nur ein paar Noten am Anfang gibt, die die Wurzeln des gesamten Stücks bilden.“
Die Sonate stellt große technische Herausforderungen dar. Sogar Kantorow gesteht, dass es „eine Menge sehr schwieriger Passagen gibt, die nicht sehr pianistisch sind. Schubert glaubte nicht, dass sie jemand aufführen könnte. Er selbst konnte sie nicht spielen. Sie ist also wahrscheinlich eines seiner Werke, die perfekt in seinem Kopf passten, aber in einer physischen Welt niemals umgesetzt werden konnten.“
Und doch befindet sich in dieser scheinbar unmöglichen Partitur Musik von solch feinfühliger Ausgewogenheit, in der Schubert ständig mit unseren Erwartungen spielt und sich nahtlos zwischen dem Dunklen und Hellen hin und her bewegt. „Wenn man die ‚Wanderer-Fantasie‘ spielt, ist es so schwer, sich zu zügeln, weil es zu einem solchen Adrenalinschub und einer Bewegung des ständigen Vor und Zurück kommt. Er schreibt absolut wahnsinnige Nuancen. Bereits am Anfang verlangt er ein doppeltes Forte. So viel ist mit lauter Dynamik geschrieben und man lässt sich davon vollkommen mitreißen.“